Der historische Gastbeitrag
Das Beißleder
Alter Brauch und üblich ist, daß der Antragsteller auf eine Baugenehmigung, sofern er nicht Ratsmitglied, Verwaltungskollege, deren Anverwandter oder Ex-VW-Manager ist, zum Formblatt Bauantrag auch ein sogenanntes > Beißleder erwirbt.
Das Beißleder ist ein 5 bis 8 mm starkes robustes ungegerbtes Rindsleder aus heimischem Aufwuchs im DIN A4-Format und hilft dem Untertanen über die Zeit der Bearbeitung seines Bauantrags durch die Verwaltung. Bei bestimmungsgemäßer Anwendung dämpft es Schmerz und lindert Verzweiflung über Reaktionsstarre oder unsinnige Auflagen, beschirmt Sicht und Augenpaar bei Gewahrwerdung administrativer Obrigkeit „at work“ und erodiert das Zeitgefühl; es fördert Langmut, Nachsicht und Stoik bei amtlicher Schnoddrigkeit und Inkompetenz.
Ursprünglich ersonnen gegen zugereiste Baufreudige, um dem ungeschriebenen Gesetz der 10-jährigen Wartezeit für Fremde Geltung zu verschaffen, erfreut es sich zunehmend behördlicher Handhabung und Bewährung auch gegen Heimische, sogar Einheimische, wenn daselbst mitunter die wiederholte Einholung von Demut und Untertanengeist als angezeigt sich erweist – und das passiert fürwahr ja nu immer öfter.
Doch ist eben Kalmierung, ist Verströmung von Milde, Dämpfung, Linderung, Entschmerzung, nicht alleiniges Anliegen des Beißleders, nein nein, es schult gleichermaßen in Pflicht, Askese, Schuldigkeit, die nämlich entwickelt sich auch bei längerem Gebrauch, den belastbar durch Beißmusterauthentifizierung nachzuweisen unabdingbar ist für die etwaige Erteilung der Baugenehmigung.
Aber das Beißleder ist übertragbar. Und neuzeitlich hat sich in diesem Kontext gar ein eigener skurriler Handelsplatz entwickelt, dessen Ausläufer sowohl in privaten Kleinanzeigen, bei ebay, bei Edeka-Aushängen als auch im Makler-Unwesen sich beobachten lassen.
Einmal routiniert ein- und ausgeprägt entwickelt sich die erforderliche Ertüchtigung mitunter zum Beiß-Reflex, richtet sich sodann gegen andere, Dritte, Mitmenschen, Nachbarn etc. und führt häufig zu untertänlichen Gegenseitigkeitszerfleischungen der Geübten, denen solche Bißtraumata an Aura und Soma für immer und unversteckbar in Seele, Antlitz und Körper eingeschrieben bleiben. Das ist der volkswirtschaftliche Schaden.
Nach etwa 10 Jahren des stillen Beiwohnens am behördlichen Treiben ist das Beißleder durch – damit steht es zur Wiedervorlage beim Bescheiderteiler und wird dortselbst im Rahmen der sogenannten Prädikatisierung jenem formellen Beurteilungsverfahren unterzogen, welches schließlich Aufschluß über die erlangte Zuteilungsreife verheißt.
Kann dieser Status bei hinlänglicher Bißerosion zuerkannt werden, ist auch die Baugenehmigung zu erteilen. Somit wird das Zuteilungsreifezeugnis alsdann gebührenbewehrter Bestandteil des Bauschildes, ist vom Antragsteller am Vorhaben für jedermann gut sichtbar auszuhängen bzw. auf Verlangen vorzuzeigen.
Das Beißleder selber aber wird hernach – gesondert von der Akte – im Stadtarchiv verwahrt und nach der sogenannten Schamfrist dann von den üblichen Chronisten, wissenschaftlichen Mitarbeitern oder Museumsleitern wieder ausgegraben und als historisches Exponat im Heimatmuseum für Touristen ausgestellt, und zwar im Rahmen der turnusmäßigen Sonder-Exposition Eala Frya Fresena und der Verleihung des Ledernen Bären.
Die Öffnungszeiten der städtischen Beißlederausgabe sind in der Regel identisch mit denen der Gesamtformblatt- sowie der Amtlichen Müllbeutel-Ausgabe und dem Schaukasten der Gemeindebüros, der städtischen Internetseite, der Tagespresse und den Aushängen der bekannten Vorverkaufsstellen zu entnehmen. Erwägungen, die Beißlederausgabe der Tafel zu übertragen, sind derzeit vom Tisch. Die Beißledergebühr entspricht in etwa der des Mischmüllgefäßes für einen 4-Personen-Haushalt und wird jährlich von Rat und Verwaltungsausschuß in nichtöffentlicher Sitzung neu festgesetzt.
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